Vanishing War
Zwei Postionen zum ersten Weltkrieg
Dr. Andrea Brockmann, Südwestfälische Galerie, 20. November 2016
Dr. Andrea Brockmann, Südwestfälische Galerie, 20. November 2016
Blaubeerfelder, Gestrüpp, Bäume noch keine 100 Jahre alt, durch den Wald und über grüne Wiesen laufen, tiefe Mulden im Land, kleine Felsspalten, die Sohlen der Wanderschuhe tief eingekerbt vom rostigen Stacheldraht: das erlebt man, wenn man in den Lothringer Vogesen wandert, dort wo 1914 bis 1918 die Westfront verlief, ein erbitterter Grabenkrieg und Stellungskampf herrschte, viele tausend Soldaten starben.
Susanne von Bülow sammelt dort auf 1000 Meter Höhe Blaubeeren in den überwachsenen Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges und malt direkt vor Ort mit den Fingern und dem Saft der zerdrückten Beeren die friedliche Stille einer wunderbaren Landschaft 100 Jahre nach dem ver-gangenen Krieg. Die Künstlerin ist 1969 in Balingen am Fuße der Schwäbisch Alb geboren, und sie kennt diese Landschaft seit ihrer Jugend von Urlaubsaufenthalten mit der Familie.
In dieser Landschaft sind noch heute die Spuren des Grabenkrieges zu finden: Stacheldraht, Reste von Bunkern, Schützengräben, Bombenkrater, auch Handgranaten. Das Vogesenmassiv birgt zahlreiche Schlachtfelder, die ihm die Dimension eines Freiluftmuseums verleihen.
Diese berührenden Erinnerungszeichen tauchen in ihren Zeichnungen mal direkt sichtbar, mal eher schemenhaft zu erahnen auf. Andere Zeichnungen scheinen ein romantisches Waldidyll wieder-zugeben. Wo sich von 1914 bis 1918 deutsche und französische Soldaten gefangen und einbetoniert in Schützengräben gegenüber lagen, wandert die Künstlerin – gemeinsam mit ihrem Ehemann Ruppe Koselleck – auf dem Vogesenkamm und entdeckt immer wieder Hinweise und Zeugnisse der Vergangenheit. Von 2014 bis 2018 verarbeitet sie diese Begegnungen mit den Spuren des Krieges in ihren Blaubeerzeichnungen, die sie unter dem Titel „Vanishing War“ fasst. Der Titel deutet an, wie die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg verschwindet, auch wie die Kriegslandschaft allmählich unsichtbar und von der Natur überwuchert wird und zum dritten wie auch der Farbstoff der Blaubeere im Laufe der Zeit immer stärker verblasst und sich die Motive verlieren werden. Man kann in den Zeichnungen erkennen, ob reife, saftige Blaubeeren genutzt worden sind. Ihre Farbe ist intensiv. In anderen Zeichnungen ist die Farbe blass, manchmal milchig. Da war die Blaubeerzeit eigentlich schon vorbei, beinhaltete die harte Schale nur noch eine wässrige Substanz, kein Fruchtfleisch. Weiße Flecken auf den Bildern deuten an, dass es beim Malen geregnet hat. Die Unmittelbarkeit des Entstehens wird deutlich.
Auch in den druckgrafischen Arbeiten „Blaubeerjunge“ werden jene Blaubeeren eingesetzt. Künstlerischer Schwerpunkt von Susanne von Bülow ist die Druckgrafik. Sie hat Geschichte in Berlin, Bonn und Münster studiert und in ihrem parallelen Kunststudium an der Kunstakademie Münster, das sie 1998 mit dem Diplom abgeschlossen hat, speziell bei Gunther Keusen experi-mentelle Drucktechniken kennen gelernt, die sie zu einer eigenen Bildmethode und -technik geführt hat. Bei den ausgestellten Werken hat sie im Druckprozess Beeren unter die Druckplatte gelegt, so dass sich die Abdrücke der Frucht ins Papier prägen und wie Einschusslöcher auf der Brust der Jungen, Sinnbilder der jungen Soldatengeneration, erscheinen.
Ruppe Koselleck, 1967 in Heidelberg geboren, Konzeptkünstler, Lehrender, Betreiber des Büros für deflationäre Maßnahmen, Porschesammler, Initiator des Projekts Mayers Erde über Kult um den ersten gefallenen deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg Albert Mayer, zeigt in der Ausstel-lung ein Fundstück aus der Vogesenregion. Es handelt sich um den Rest eines T-Trägers aus einem Bunker, der von einer Bombe getroffen wurde. Das zerfetzte Stück Stahl lässt erahnen, wie groß die Zerstörung war, die auch den Tod vieler Soldaten bedeutete. Mit seiner skulpturalen Eigenkraft wirkt das Stück wie ein ästhetischer Gegenstand, der jedoch eine gewaltsame Geschichte in sich trägt und ein symbolisches Erinnerungszeichen ist. Und im Miteinander von entkontextualisiertem Fundstück und der Blaubeerzeichnung, die jenes Stück noch in der Landschaft aufnimmt, wird das Konzept, die Idee, auch die persönliche Betroffenheit der Künstler deutlich und die Präsenz des Themas in ihrem Werk sichtbar.
Zum anderen stellt Ruppe Koselleck mit „Nie wieder Frieden“ ein Kriegerdenkmal zur Diskussion, dessen Bildmaterial zwar historisch auf den Ersten Weltkrieg verweist, aber dessen bedrückende Eindringlichkeit jeden Krieg und noch mehr jeden Krieger meint. Die Filmsequenz zeigt einen Soldaten, der als „Kriegszitterer“ unter den psychischen Schäden aus der Zeit in den Schützen-gräben leidet. Unter anderem war der ständige Artilleriebeschuss für Soldaten sehr belastend und führte zu dieser posttraumatischen Belastungsstörung. Die Alliierten nannten die Krankheit shell shock, da sie glaubten, die Druckwellen der Explosionen hätten die Gehirne an die Schädelwände gedrückt und so beschädigt. Ruppe Koselleck hat aus der Sequenz, die im Internet abrufbar ist, einen Videoloop gemacht, der als Mahnmal den überlebenden Soldaten gewidmet ist. Es ist ein „abschreckendes und wirkungsvolles Fanal gegen den Wahnsinn des Krieges“ wie Matthias Reichelt in der Zeitschrift Kunstforum International, Bd. 235, August-Sept. 2015 über die Arbeit von Ruppe Koselleck schreibt. Der Soldat wird nie wieder Frieden haben, so wie alle Kriegstraumatisierten nie wieder Frieden haben – nicht in Geist und Körper, nicht in ihren Träumen und Gedanken. Und das bezieht sich nicht nur auf die Menschen nach 1918 oder 1945, sondern auch heute in Syrien, im Südsudan, im Jemen oder in Afghanistan. Ruppe Koselleck zeigt uns mit seiner Videoskulptur ein universales, zeitloses Mahnmal.